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Tagesausklang mit Rilke

Als sich heute der Abendhimmel färbte, fiel mir das Sprachbild von den „rot gelaufenen Wangen“ ein. Das hatte ich in einem Gedicht gelesen, doch wo und von wem? Natürlich habe ich mich bei Google auf die Suche gemacht und es hat ein wenig gedauert, bis ich es hatte. Rote Wangen als Suchbegriff führen nämlich geradewegs zu Dermatologen und Salbenverkäufern. Ich dachte, im Titel des Gedichtes müsse das Wort „Abend“ vorkommen, doch es heißt „Stimmungsbild“ und ist von Rainer Maria Rilke. Rilke – das war doch naheliegend.

Nun liegen die Zeilen vor mir. Sie bilden ein berührendes Sommergedicht. Als Rilke es schrieb (ich habe aus Neugier das Entstehungsjahr mit dem Geburtsjahr abgeglichen) war er noch keine zwanzig Jahre alt. Nun bin ich erst recht beeindruckt. Ein junger Mann, der die in ihm wallenden Emotionen in bildstarke Worte zu kleiden vermag. Hier kündigt sich ein Dichter an. Ob er von seiner künftigen Meisterschaft schon eine Ahnung hatte, als er da auf der Wiese liegend die Abendstimmung in sich aufnahm?

Damit mir diese Verse nicht mehr verloren gehen, hebe ich sie mir hier als Fundstück auf. Zum immer wieder lesen, wenn ich mich bei einem schönen Abendrot an sie erinnere. Vielleicht erfreuen sie auch euch:

Stimmungsbild

Graue Dämmerungen hängen
überm weiten Wiesenplan,
müd, mit rot gelaufnen Wangen
kommt der Tag im Westen an.

Atemlos dort sinkt er nieder
hinter Hängen goldumsäumt,
seine lichtermatten Lider
fallen mählich zu. Er träumt.

Träumt manch sonnig Traumgebilde.
Leis vom Himmel schwebt dahin
jetzt die Nacht und neigt sich milde,
sternelächelnd über ihn.

Rainer Maria Rilke (verfasst 1894)

So schön kann ein Tag zu Ende gehen. Für mich ein Sommergedicht, obwohl die Jahreszeit mit keinem Wort erwähnt wird. Die Zeilen fühlen sich mild und luftig an – und aktiv. Der Tag hat sich erschöpft und sinkt ins Gras. Wie ein Sportler, von dem im Ziel die Anspannung abfällt und der sich zufrieden fallen lässt. Entspannen und durchatmen. Es war ein langer, positiver Tag, der nun langsam in eine Nacht mit sternenklarem Himmel hinübergleitet – nein: in eine Nacht, die sternelächelnd leis vom Himmel schwebt. Wie wunderbar.

(c) Lutz Schafstädt – 2021
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