Alle Jahre wieder
Endlich Feierabend. Raus aus der mit Kollegenmief gesättigten Büroluft, rein in den herbstgrauen Park. Es ist mein üblicher Heimweg, wegen mir müssten hier keine Bäume stehen. Die halten mit ihren Ästen nur die Nässe fest und werfen angefaultes Laub nach mir, das sich an die Sohlen klebt und, zu einer glitschigen Paste verdichtet, mich von den Beinen holen will. Sauwetter. Dieser schmierige Tag und ich werden keine Freunde mehr.
Da rumpelt mir ein Gespann in den Weg. Eine stämmige Mutter, mit Bollerwagen im Schlepp und zwei eingemummelten Blagen darin, bremst mich aus. Unglaublich. Hätte sie nicht die halbe Minute warten und mich erstmal vorbeilassen können? Ich ziehe einen mürrischen Spruch in Erwägung, belasse es aber bei einem Grummeln, denn sie nehmen überhaupt keine Notiz von mir. Die Madame stapft stoisch weiter, der Nachwuchs sitzt sich im Fuhrwerk gegenüber und übt ein sinnfreies Fingerspiel. Überholen? Dazu müsste ich auf den sumpfigen Randstreifen und die Nähte meiner Schuhe lauern nur darauf, die kalte Nässe mit den Socken zu teilen. Das fehlte noch. Also nehme ich Tempo raus und schlendere hinterdrein, auf mich warten schließlich Nix und Keiner.
Eines der Kinder setzt zu singen an:
Alle Jahre wieder
kommt das Christuskind
auf die Erde nieder,
wo wir Menschen sind.
Das war klar. Die Zeit ist reif für Weihnachtslieder. Der November dünstet sie unvermeidlich aus, mit all dem anderen Firlefanz. Alle Jahre wieder. Das Mädchen singt recht akzeptabel. Sie hat die Melodie im Griff und eine klare, kräftige Stimme. Nur mit dem Text hapert es. Mehr als den ersten Reim hat sie nicht zu bieten und prompt stimmt der kleine Bruder mit ein. Alle Jahre wieder. Mit vereinten Kräften schmettern die beiden ihre frohe Botschaft heraus. Und noch einmal von vorn. Eigentlich ein amüsantes Schauspiel, nur finde ich, die Mutter sollte rechtzeitig einschreiten, bevor der monotone Singsang für unbescholtene Passanten nervig wird. Alle Jahre – schon wieder, immer wieder, doch es klingt nett.
Dann dreht sich die junge Mutter um, wechselt die Hand an der Deichsel und zieht den Wagen, rückwärts laufend, weiter. Lächelnd blickt sie zu den Kindern hinab und singt ihnen vor, wie das Lied weitergeht:
Kehrt mit seinem Segen
ein in jedes Haus,
geht auf allen Wegen
mit uns ein und aus.
Die Kleinen sind augenblicklich still und hören zu. Mit warmer Stimme singt Mama die Strophe gleich noch einmal. Wer ganze Wald scheint zu lauschen. Außer dem Gesang ist kein Laut zu vernehmen. Selbst das Knirschen der Wagenräder auf dem Parkweg ist verstummt. Erst jetzt merke ich, dass wir stehengeblieben sind. Da schaut die junge Frau mich an, zwinkert mir freundlich zu, zieht den Bollerwagen an, wendet sich ab und biegt in einen Seitenweg. Das Trällern der Kinder entfernt sich.
Ich stehe noch immer, bin seltsam berührt und blicke ihnen nach. Was hat diese Begegnung mit mir gemacht? Die Zeilen des oft gehörten Liedes klingen nach, vielleicht habe ich sie sogar eben erst zu verstehen begonnen. So schöne Verse, so schlicht. Voller Harmonie, Freude und Zuversicht. Jedes Wort eindringlich und klar. Vorfreude, Hoffnung, Dankbarkeit. So echt und bedingungslos können sich vermutlich nur Kinderherzen der Weihnachtsfreude ergeben. Ich gönne sie ihnen.
Da fällt sie mir ein, die dritte Strophe des Liedes. Sie ist einfach da, mit größter Selbstverständlichkeit, Wort für Wort, nach so vielen Jahren. „Ist auch mir zur Seite“, flüstere ich. Wie ergreifend! Ein Schauer durchläuft mich. Die Zeilen wollen heraus. Ich blicke mich vergewissernd um, niemand ist zu sehen. Ich hebe den Kopf, mache mich gerade und beginne leise zu singen:
Ist auch mir zur Seite
still und unerkannt,
dass es treu mich leite,
an der lieben Hand.
Erst zaghaft, dann lauter. Meine eigene Stimme klingt mir fremd, mir ist als strömten lange verborgene Gefühle aus mir heraus. Als der letzte Ton verklingt ist es wieder still im Park. Feierlich still. In mir ist Weihnachten.
(c) Lutz Schafstädt – 2017
Meine Miniaturen: Kurze Texte, kleine Ideen, spontane Gedanken.
Hi Lutz!
Kann ich nachfühlen, obwohl ich in einer Gegend wohne, wo es selten grau ist, nur die Stimmung hält nicht immer Schritt. Und dann kommt jemand und lacht Dich an und die graue Stimmung verzieht sich.
Herzlichst
Detlev