Veröffentlicht in der Kurzgeschichtensammlung „Expedition“.
Aus Regentropfen werden Rinnsale, auf denen sich die Gedanken treiben lassen:
[...] Pünktlich zum Feierabend hat Nieselregen eingesetzt. Fein zerstäubt schlägt der Wind ihn mir ins Gesicht, während ich auf dem vereisten Fußweg sicheren Halt suche. Ich tapse in Rinnsale, schaue mich nach dem Verkehr auf der Straße um – und als ein Auto sich nähert, bringe ich mich mit einem beherzten Schritt in verharschte Schneereste vor einem Schwall Bordsteinwasser in Sicherheit. Kalt spüre ich Feuchtigkeit in meine Strümpfe sickern. Bis zur Straßenbahnhaltestelle ist es nicht mehr weit. Im Wartehäuschen herrscht Gedränge. Ich schiebe mich dazwischen und sichere mir einen trockenen Platz neben der hinterleuchteten Plakatwand. Sonnengelb und meeresblau prangen mir Urlaubsfreuden entgegen. Zwei Jungen stellen sich vor mich. Der Kleinere, vermutlich ein Erstklässler, trägt einen Schulranzen auf dem Rücken und schiebt mich damit ein Stück nach hinten. Der Größere, nur wenige Jahre älter, bleibt eng neben ihm und ihre Schuhspitzen markieren die Linie, auf der die Tropfen vom Dach des Wartehäuschens niedergehen und zerplatzen. „Sind die fett“, sagt der Kleine. Ich schließe mich ihren Blicken nach oben an, wo ein schmales Schneebrett über den Rand des Daches ragt, aus dem in schneller Folge die Tropfen fallen. „Die treffen sich da alle, schließen sich zusammen und wachsen, bis sie zu schwer sind und abstürzen“, erklärt der Große. Wenige andächtige Sekunden später kommt die Erwiderung: „Stell dir mal vor, die machen das schon oben in den Wolken. Dann kommt ein Tropfen, so groß wie Afrika. Wenn der runterkracht, ersaufen alle.“ Der Kleine blickt zum Großen auf, in seinen Augen leuchtet die Begeisterung für seinen grandiosen Gedanken. Fast scheint es mir, die beiden weichen noch ein Stück weiter vor dem Regen zurück. Ein älterer Mann neben mir, die Mütze bis in die Stirn gezogen, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Unter seiner Nase sammelt sich ein Tropfen, der bereits eine beträchtliche Größe erreicht hat und in den Urlaubsfarben des Plakates glitzert. „Das kann nicht passieren“, höre ich den größeren Jungen sagen. „Wenn ein Tropfen in der Wolke dick genug ist, regnet er herunter. Dagegen kann er sich nicht wehren.“ In diesem Moment löst sich die Wasseransammlung von der Nase des Mannes und fällt auf den von seinem Bauch vorgewölbten Mantel. Ich kann ein Schmunzeln nicht unterdrücken und bedauere ein wenig, dass die beiden Jungen diesen Beweis der Schwerkraft verpasst haben. Er ist schon ein kleines Wunder, dieser Kreislauf des Wassers, denke ich, während sich die Straßenbahn nähert. Kein anderes Element macht sich auf eine vergleichbare Reise. In der Bahn ergattere ich einen Sitzplatz. Mit dem Handrücken wische ich mir einen Sehschlitz auf die beschlagene Scheibe. Schon wieder Wasser, diesmal kondensiert und vermischt mit den Ausdünstungen der Fahrgäste. Aus ihrem Schweiß, ihrem Atem, ihrem Niesen und Husten, ihren nassen Kleidern und Schuhen springt es auf die Scheiben, wird mir plötzlich bewusst und ich wische mir die Hand am Hosenbein ab. Wolken, Regen, Quellen und Bächlein sind die romantische Sicht der Dinge. Doch das Wasser wird von allen Lebewesen benutzt, als ganz normaler Teil seiner Reise. Natürlich. Wasser aufnehmen, Wasser ausscheiden. Jeder trägt Zeit seines Lebens dazu bei, auch ich, auch jetzt, was mir ein warmer Hauch gegen das kalte Glas sofort beweist. [...]
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