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Rilke-Zeilen aus “Generationen” und “Die Flucht”

Die nachfolgenden Zeilen sind schon seit vielen Jahren als Fundstück auf meiner Homepage. Um genau zu sein, seit Oktober 2011. Natürlich dümpelte der Beitrag weitgehend vor sich hin, was er jedoch nicht verdient hat. Ich denke, Rainer Maria Rilke muss man nicht weiter anpreisen. Die meisten kennen vor allem seine Gedichte. Hier nun, was ich mir zum Erzähler Rilke skizziert habe:

Ich will zwei kurze Zitate aus Rilkes Erzählungen als Fundstücke bewahren, die mich stark beeindruckt haben. Man muss wohl Lyriker sein, um so eindringliche und dichte Prosa schreiben zu können.

Ich bewundere, wie es Rilke gelingt, einprägsame Bilder mit empfindsamen Stimmungen aufzuladen, denen sich kein fühlender Leser entziehen kann. Eindrucksvoll, besonders wenn man bedenkt, dass Rilke sehr jung, noch Student war, als er die Erzählungen “Generationen” und “Die Flucht” verfasst hat. Wie präzise er beobachtete und kleinsten Details nachspürte. Wie sensibel er es vermochte, überall Emotionen und Symbole freizulegen. Er erzählte nicht, um von Begebenheiten zu berichten, sondern ihm ging es darum, ein Gefühl einzufangen, eine Stimmung zu übermitteln. Und wie ihm das gelang!

In “Generationen” fängt Rilke einen einzigen Moment des Innehaltens ein. Ein junger Mensch in der guten Stube der Großeltern, wo sich der Alltag in Gerüchen und das Leben in den Portraits von Oma und Opa manifestieren. Zwei Sätze aus dieser Erzählung:

Es sind enge, ovale Brustbilder, aber beide haben ihre Hände hineingehoben, so mühsam das gewesen sein mag. Es wären keine Porträts geworden ohne diese Hände, hinter denen sie leise und bescheiden hingelebt haben, alle Tage lang. Diese Hände hatten das Leben gehabt und die Arbeit, die Sehnsucht und die Sorge, waren mutig und jung gewesen und sind müde und alt geworden, während sie selbst nur fromme, ehrfürchtige Zuschauer dieser Geschicke waren.

Die hohen, halbblinden Spiegel wiederholen immerfort, als müssten sie’s auswendig lernen: der Großvater, die Großmutter. Und die Albums auf der gehäkelten Tischdecke sind voll davon: Großvater, Großmutter, Großvater, Großmutter. Natürlich stehen die steilen Stühle ehrfurchtsvoll herum: als ob sie einander eben erst vorgestellt wären und gerade die ersten Phrasen tauschten.

Rainer Maria Rilke, “Generationen” (1898)

Weiter geht es: “Die Flucht” ist eine kleine Geschichte über die unschuldige Liebe eines sehr jungen Paares. Fritz und Anna treffen sich heimlich in einer Kirche, erträumen sich eine gemeinsame Zukunft, die für Fritz nur durch Flucht erreichbar scheint. Doch der aus aufgewühlten Gefühlen geschöpfte Mut hält bei ihm nicht lange vor und seine Gedanken wandeln sich. Eindrucksvoll ist hier nicht die Geschichte selbst, sondern wie einfühlsam sie erzählt wird. Hier meine Lieblingssätze:

Das blasse Mädchen drückte ihre lichtbraune Jacke in die dunkelste Ecke der schweren, schwarzen Eichenbank. Die Rose auf ihrem Hut kitzelte dem Holzengel in der geschnitzten Lehne das Kinn, so dass er lächelte. Fritz, der Gymnasiast, hielt die beiden winzigen Hände des Mädchens, welche in zerschlissenen Handschuhen staken, in den seinen, so wie man ein kleines Vögelchen hält, sanft und doch sicher.

Die beiden Menschen schauten vor sich hin, und ihre Blicke gingen derselben Fliege nach, welche durch die Rillen und Runen der Betbank pilgerte.

Die Uhr tickte. Tief unten fuhr ein Wagen vorbei, und die Scheiben zitterten davon. Die Uhr, die noch von den Zwölfschlägen müde war, atmete auf und sagte mühsam »Eins«. Mehr konnte sie nicht.

Rainer Maria Rilke, “Die Flucht” (1897)

Vielleicht habt ihr jetzt Lust bekommen, ein paar Seiten Rilke-Prosa zu lesen. Ein konkretes Buch muss ich euch dafür nicht empfehlen, denn Rilke-Gesamtausgaben gibt es an jeder Ecke. Ich verspreche euch, es lohnt sich.

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