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Was ich für ein Vogel bin

Ich bin abhängig beschäftigt. Was nicht heißt, dass ich einen Job habe, von dem ich nie genug bekomme, sondern dass es einen Stuhl gibt, auf dem ich tagsüber abhänge. Das ist mein Arbeitsplatz. Ich fülle ihn aus, umgekehrt gilt das nicht. Ich komme gut klar damit, weil ich Hektik nicht ausstehen kann und meine Ansprüche unter Kontrolle habe. Mir reicht das warme Nest, ich muss nicht auch noch brüten.

Ich bearbeite Sachen. Das sind Dinge, die von Kunden angeschleppt werden. Kunden sind Leute, die mit meiner Bude einen Deal gemacht haben und in dem Glauben vorstellig werden, daraus Ansprüche auf irgendwelche Leistungen ableiten zu können. Sie haben Anliegen. Im Detail haben die mich nicht zu interessieren, ich bin, wie gesagt, nur Sachbearbeiter. Man erwartet von mir, im Kundenkontakt freundliche Bestimmtheit an den Tag zu legen und verbindliche Zusagen tunlichst zu vermeiden. Entscheidungen gehören nicht zu meinem Jobprofil, mir obliegt es, sie vorzubereiten. So sagt jedenfalls mein Chef. Wenn der mich fragt, was ich hier am liebsten mache, sage ich immer „Feierabend“. Dann lacht er laut und hält mich für einen witzigen Typ.

Heute war wieder ein Kunde unzufrieden, besser gesagt, mit dem Ergebnis der Prüfung seines Anliegens nicht einverstanden. Er knallte mir das entsprechende Schreiben auf den Tisch und meinte, mich mit einem erbosten Wortschwall für sein Problem interessieren zu können. Natürlich ist das Alltag für mich. Routiniert wie teilnahmslos bat ich den Schwätzer darum, sachlich zu bleiben, während ich am Terminal den Kontaktverlauf in seinen Kundendaten nach unten scrollte, um dann seine Beschwerde zu erfassen und ein Ticket für die Bearbeitung im zuständigen Bereich zu erstellen. Das dauerte zwei, drei Momente. Der Herr fühlte sich ignoriert.

„Ich bin gleich bei Ihnen“, murmelte ich halblaut und blieb darauf konzentriert, die Häkchen der Eingabemaske korrekt zu aktivieren.

Meinem Gegenüber, auf der anderen Seite des Schreibtisches und nur einen knappen Meter von mir entfernt, schien diese ausgeleierte Floskel nicht geläufig zu sein. Er fühlte sich provoziert.

„Was bist du denn eigentlich für ein Vogel?“, brüllte er.

Es war, als hätte ich ein Alarmsignal vernommen. Meine Hand ließ die Maus frei, mein Blick schnellte nach oben, ich zog die Schultern zurück.

„Was ich für ein Vogel bin?“, wiederhole ich. Einatmen. Ich denke: Der Jeck wird persönlich. Beim Ausatmen: So dumm ist die Frage nicht. Dann geht alles sehr schnell. In Lichtgeschwindigkeit jagen die Gedanken durch mein Hirn.

Ich bin ein Nutzvogel, fällt mir ein. Gibt es so etwas? Nutzvogel, nützlich, wie domestiziertes Geflügel. Scharren, gackern, kackern. Eierkuchen, Chicken Wings und Daunenkissen. Komplett verwertet und ahnungslos bis zum letzten Atemzug. Ja, das kommt schon hin. Darüber hinaus gelandet in der schlimmsten aller Haltungsformen: Käfighaltung. Bodenhaltung zur Entspannung nur am Wochenende und Freiland als Schnupperkurs für ein paar Sommerwochen. Nein, Käfig stimmt nicht. Ich sitze hier in einer weitläufigen Halle. Designermöbel, Feng-Shui und großformatige Bilder suggerieren Kompetenz, Erfolg und Seriosität. Nicht meine, schon klar. Die Fenstersprossen und Wandstreben sind die goldenen Gitterstäbe einer prachtvollen Voliere. So bin ich wohl ein dekoratives Element im schmucken Gesamtensemble. Ein Ziervogel vielleicht. Ist der nützlich? Er soll gefallen, beeindrucken, bewundert werden, vielleicht sogar ablenken, verwirren und täuschen – weiß der Geier. Geier? Die sitzen wohl eher zwei Etagen höher. Ich vollführe derweil meine einstudierten Kunststückchen, frei nach der Devise: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Ein Singvogel wäre ich gern, doch die findet man eher im Außendienst. Einmal habe ich es dort versucht. Das Trällern, Betören, Umgarnen, Locken und Fesseln liegt mir nicht, so lukrativ die Provisionen auch sind. Neben einer hübschen Stimme braucht es noch Beharrlichkeit und Biss, damit der Singsang mit einer Unterschrift belohnt wird. Fast könnte man sie für Greifvögel halten, doch die Räuber mit den härtesten Schnäbeln und schärfsten Krallen sitzen ganz oben und geben sich nicht mit Häppchen ab. Das alles bin ich nicht. Vermutlich bin ich schlicht und ergreifend nur ein schräger Vogel, der nicht weiß, wo sein Platz ist. Der Nutzvogel an diesem Tisch sitzt mir gegenüber. Dieser aufgeplusterte Hahn hält sich für den König der Lüfte und merkt dabei nicht, wie er gerupft wird. Aber das werde ich ihm nicht sagen. Vielmehr sollte ich ihm für seine Frage dankbar sein.

Wie gesagt, Lichtgeschwindigkeit. Die Gedanken rasten vor meinem inneren Auge vorbei. Nun kehrte ich in die Wirklichkeit zurück.

„Was ich für ein Vogel bin?“, wiederholte ich die Frage und erhob mich dabei von meinem Stuhl. „Ich bin ein Zugvogel.“

Der Herr Kunde war kurz verwirrt und signalisierte dann seine Bereitschaft, das alles für einen Scherz zu halten. Ich jedoch löste mein Namensschild von der Jacke, legte es auf den Tisch und zog meinen Rucksack aus dem Schreibtischfach.

„Ich mache den Abflug. In den Süden. Seien Sie künftig achtsamer bei der Nutzung ornithologischer Redensarten.“

Das Wort Nestflüchter fiel mir noch ein, während ich zur Tür ging. Ich fühlte mich euphorisch – vielleicht hatte ich auch einfach nur einen Vogel. Oder eine Meise. Oder einen Piep.

(c) Lutz Schafstädt – 2022
Meine Miniaturen: Kurze Texte, kleine Ideen, spontane Gedanken.

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