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Grizzly

Einmal, im Traum, werde ich zum Grizzlybären. Ein Raubtier, dem vor Kraft und Sehnsucht das Herz überquillt. Ich folge meinen Trieben, stürme den Hügel hinab, will mir eine Bärin suchen.

Ich breche durch das Unterholz, lasse Baumwipfel wanken. Vögel flattern auf. Flüchtendes Getier huscht über den Waldboden. Alles weicht vor mir zurück. Bei jedem Schritt spüre ich, wie unter meinem Pelz die Muskeln zucken. Stellt sich mir jemand in den Weg, bäume ich mich auf, Krallen ausgefahren, Zähne gefletscht. Unter den Hieben meiner Pranken erzittert die Welt, mein Brüllen lässt jedes andere Geräusch verstummen. Respekt und Bewunderung sind mir gewiss.

Dann sehe ich sie. Mein Ziel, meine Begierde. Am anderen Flussufer steht sie, ihr Ruf klingt tief und inbrünstig. Doch unüberwindbare Stromschnellen trennen uns. Sie erwartet mich. Sie will mich. Schon siedet mein Blut und drängt die Lust. Soll ich es wagen, mich in die Fluten stürzen? Mit den Vorderpfoten im Wasser schwanke ich, von einer Tatze auf die andere. Mein Körper wippt hin und her, in einem Takt, wie im Tanz. Eine Melodie weht heran, ihr Rhythmus passt zu meinen Bewegungen. Plötzlich singe ich, hingebungsvoll und heiser, im Bären-Stakkato: „Wenn – ich – ein – Vög – lein – wär‘ – und – auch – zwei – Flü – gel – hätt‘, – flög‘ – ich – zu – dir …“

Ich wache auf. Ich stürze aus meinem Traum, jäh enttäuscht, um ein Erlebnis betrogen. Ich taste nach dem Platz neben mir, er ist leer. Die Schlafzimmertür steht halb offen, geschäftiges Klappern dringt herein. Ich wälze mich aus dem Bett, schlurfe ins Bad, fahre mir mit dem nassen Kamm durch die Haare. In der Küche ist der Tisch ungewohnt sorgfältig gedeckt, der Kaffee dampft, es gibt sogar Frühstückseier. Ein Blumenstrauß in der Mitte, auf meinem Teller ein kleines Päckchen.

„Habe ich Geburtstag?“, brumme ich.

„Alles Liebe zum Valentinstag“, sagt sie.

„Oh, Mist, den habe ich schon wieder vergessen.“

„Ja, das weiß ich doch, mein Bärchen.“

„Na dann, dito“, murmele ich und lasse mich auf meinen Stuhl sinken. Wie sich ein singender Tanzbär in meine Träume verirren konnte, kapiere ich einfach nicht.

(c) Lutz Schafstädt – 2022
Meine Miniaturen: Kurze Texte, kleine Ideen, spontane Gedanken.

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