„Ich habe Vater nach oben geschafft.“ So schlicht wie brachial beginnt der Roman und führt in den tristen Alltag von Helmer, der nun allein in der Küche eines niederländischen Bauernhofes sitzt, wo ehemals jeder seinen festen Platz hatte und noch nie viel geredet wurde.
Helmer ist um die 50 und führt ein einsames Leben. Schnell wird klar: Im Grunde führt er das Leben seines Zwillingsbruders Henk, der in seiner Jugend bei einem Unfall ums Leben kam. Als Helmer noch Träume hatte, wollte er Literatur studieren. Doch der Vater entschied anders und Helmer fügte sich.
Helmer richtet den aufgestauten Groll über sein verplempertes Leben gegen seinen alten, kranken Vater, ohne jedoch offen mit ihm darüber zu reden. Eine für mich unvergesslich schöne Szene ist der Moment, als auf dem Kanal zwei Jungen im Kanu vorbeikommen, Helmer im Overall reglos am Ufer steht und hört, wie sie sich über seine Esel lustig machen. Da fühlt er sich alt, sieht seine eigene vertane Jugend vorbeiziehen. Er ist „jeden Tag älter geworden, ohne dass sich sonst irgendetwas verändert hätte“.
Das Einerlei aus Arbeit auf dem Hof und sporadischen Kontakten zur Nachbarin und deren Kinder ändert sich, als die ehemalige Braut seines verstorbenen Bruders auftaucht und ihm ihren halbwüchsigen Sohn, seinen Neffen Henk, anvertraut. Er soll bei ihm etwas Disziplin und Ordnung lernen und bringt im Leben und in den Gedanken von Helmer einiges durcheinander. Erinnerungen werden wach, voller Melancholie stellen sich alte Fragen neu.
Nach und nach wird Helmer klar, dass die Zeit gekommen ist, die Sprachlosigkeit zu überwinden und eigene Entscheidungen zu treffen. Es ist spät, aber noch nicht zu spät, aus dem Stellvertreter-Leben auszusteigen und eigene Wege zu gehen – dabei gelingt es sogar, an eine verloren geglaubte Beziehung aus frühester Jugend anzuknüpfen. Doch die Lücke der vielen Jahre lässt sich damit nicht schließen und das Gefühl der Einsamkeit bleibt Teil seines Daseins …
Ein berührender, tragischer und skurriler Roman, der ein wahres Lesevergnügen ist.
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(c) Lutz Schafstädt – 2022
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