Der erste Mai macht das Wochenende lang und wir verbringen es in Heringsdorf an der Ostsee. Das Ostseebad Heringsdorf ist eines der berühmten Kaiserbäder auf Usedom.
#usedomwochenende
Mai 2008 | Für alle, die von Heringsdorf oder den Kaiserbädern noch nie etwas gehört haben: Entlang des Ostseestrandes hat sich seit dem 19. Jahrhundert die mondäne Bäderarchitektur in Form opulenter Villen entwickelt. Die durchgehende Promenade der Kaiserbäder ist 12 Kilometer lang und die Insel Usedom zählt zu den sonnenreichsten Regionen Deutschlands.
In Heringsdorf treffen wir am späten Nachmittag ein und brauchen nur drei Versuche, bis wir ein Hotel in Standnähe gefunden haben, das uns für die nächsten Nächte beherbergt. Wir buchen das Frühstück gleich mit, Lüften das kleine Zimmer gründlich durch und haben sogar noch Zeit für einen ersten kleinen Orientierungsrundgang, bevor wir uns ein Restaurant für das Abendessen suchen.
An der Seebrücke legt das letzte Fährschiff des Tages legt ab und steuert auf Ahlbeck zu. Am Strand nimmt eine Gruppe Reiter Aufstellung und übt eine Choreografie. Eine Generalprobe, wie wir vermuten, denn immer wieder gibt es lauf gerufene Regieanweisungen für das Pferdeballett. Hier in Heringsdorf scheint irgendeine Veranstaltung zu laufen, am Abend begegnen wir einigen seltsam uniformierten Leuten.
Am nächsten Morgen begegnen wir ihnen wieder. Sie haben die Instrumentenkoffer geöffnet und Blasinstrumente hervorgeholt. Am Buffet im Frühstücksraum erkennen wir sie ohne ihre Uniformen noch nicht. Erst als sie Aufstellung nehmen, um einem Geburtstagskind in ihren Reihen ein Ständchen zu schmettern, sind wir im Bilde. Die Gläser auf dem Tisch erzittern und wir sind hellwach.
Gleich nach dem Frühstück zieht es uns hinaus an die Seeluft. Auf dem Festplatz neben der Seebrücke sammeln sich, nun wieder weidmännisch uniformiert, die Jagdhornbläser. Sie drängen sich in die Konzertmuschel. Die Bänke vor der Bühne füllen sich mit meist betagten Kurgästen, die in Erwartung eines Kulturprogramms der Morgenkühle trotzen. Am Rand des Platzes stehen einige barock kostümierte Reiter. Als die Waldhörner, wie bei einer Orchesterprobe durcheinander quäkend, über den Platz schallen, beginnen die Pferde nervös mit den Hufen zu schlagen. “Holzwirtschaft ist Naturschutz”, steht auf einem großen Transparent über der Bühne. Nach kurzem Applaus beginnen erst einmal die Ansprachen. Bis die Musik spielt, kann noch dauern. Der offizielle Teil irgendeiner Forst-Veranstaltung, die gerade beginnt. Hier hält uns nichts, wir gehen weiter zur Seebrücke hinüber.
Der gläserne Windfang, der den Steg in der Mitte trennt, soll gegen Wind und Regen schützen. Jetzt dämpft er außerdem die einsetzende Blasmusik der Jagdfreunde. Der moderne Bau am Ende der Seebrücke, natürlich ein Restaurant, sieht wie eine fernöstliche Kopfbedeckung aus. Auch nah besehen erinnert er an ein Hütchen, noch mehr, als in der Dämmerung seine Krempe von Lämpchen nachgezeichnet wird.
Wir spazieren den Strand entlang. Der Wind schläft noch, die Sonne blendet von einem makellos blauen Himmel herab. Die Zahl der Wanderer, Sportler, Flaneure und Sonnenblinzler wächst von Minute zu Minute.
Zwischen Heringsdorf und Ahlbeck reihen sich aufgeputzte Villen und Hotels aneinander. So viel zur Schau gestellter Wohlstand, all die idyllisch-protzige Exklusivität – unbescheidene Fingerzeige auf den einstigen und in frischen Farben neu in Besitz genommenen Glanz der Kaiserbäder. Nur hin und wieder flegeln sich noch Reste der Arbeiter- und Bauern-Ferienkultur mit eingeschlagenen Scheiben und bröckelnden Fassaden dazwischen. Wir gehen die Promenade entlang bis zur schmucken Seebrücke von Ahlbeck. Für den Rückweg bleiben am Strand und ziehen im Sand sogar die Schuhe aus.
Die Strandkörbe werden in den Sonnenlauf gerückt, die Jacken abgeworfen. Auch wir erliegen der Verlockung, lassen das Wasser unsere Füße umspielen. Doch die Ostsee ist noch nicht auf Spiele aus. Sie schnappt mit eisigen Zähnen zu und wir beißen unsere erst einmal zusammen, bis wir uns an die Kälte gewöhnt haben. Die Wassertemperatur betrage höchstens sieben Grad, hören wir es munkeln.
Ein kleiner Junge lässt uns glauben, es wäre bereits August. Splitternackt läuft er die gut zwanzig Meter zwischen dem Strandkorb seiner Eltern und der Wasserlinie hin und her, schwenkt seinen Buddeleimer, kniet sich in den durchtränkten Sand. Um ihn herum Spaziergänger in langen Hosen und dicken Jacken. Er bemerkt, dass wir über ihn staunen. “Ich sammle nur Muscheln”, erklärt er sich, hält uns zum Beweis sein Eimerchen hin und macht sich von dannen. Wir schauen ihm nach und sehen den Sand von seinem Hintern rieseln.
Auf der Seebrücke und am Strand darunter bleiben Schaulustige stehen. Noch einmal nackte Tatsachen: Zwei junge Männer haben sich ihrer Kleider entledigt und machen sich auf, ein Bad zu nehmen. Zunächst in der Menge. Hier präsentieren sie ihre frisch enthaarten Körper. Dass sie Spaß daran haben, sich zu zeigen, dafür spricht die Wahl ihres Badeortes direkt neben der bevölkerten Seebrücke. Dann geht es ins Wasser. Ganz langsam, tastend, mit kleinen Schritten überwinden sie den flachen Strand, werfen sich dann einmal in die eisigen Wellen, hasten zum Ufer zurück, werfen ihre Schrumpfkörper in Handtücher. Unter Kopfschütteln zerstreut sich die Menge, aber eben erst dann.
Den Tag verbringen wir in Heringsdorf, bummeln durch die Shops, kehren ein, sitzen in der Sonne, schauen auf das Meer hinaus.
Abends müssen wir uns für kein Restaurant entscheiden. Es ist Strandparty. Die haben wir offensichtlich auch den Forst- und Waldleuten zu verdanken. Die Seitenwand eines Anhängers wird aufgeklappt und fertig ist die Bühne. Ein fröhliches Repertoire aus Gassenhauern und Stimmungsliedern heizt den Gästen ein. Feuerkörbe knistern. Spanferkel und Bratwürste duften. Am Bierwagen herrscht Gedränge. Die Lichter des Festes spiegeln sich auf der träge ans Ufer züngelnden Ostsee. Schiffe blinken in der Ferne. Tanzpaare drängeln sich vor dem Bühnenwagen. Die Gäste auf den Bänken singen und schunkeln mit. Schnell sind wir eingefangen und schwingen unsere mit Rum gedopten Cola-Becher in der Luft. Ein schöner, gemütlicher, fröhlicher Abend, versichern wir uns gegenseitig, nachdem die letzten Zugaben endgültig verklungen und wir noch einmal die Seebrücke abgeschritten sind.
(c) Lutz Schafstädt – 2023
Unterwegs – Ausflüge und Reiseerinnerungen