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„Warum du mich verlassen hast“ von Paul Ingendaay

Mit der letzten Seite dieses Buches blicke ich zurück in eine weite niederrheinische Landschaft, in der ein katholisches Internat wie eine Insel schwimmt. Hier spielt die Geschichte vom jungen Marko und es verwundert nicht, dass er in seiner Fantasie mit Robinson und seiner Insel-Einsamkeit eine Seelenverwandtschaft pflegt.

Erzählt wird von seinem letzten Jahr im Collegium. Während Marko sich in Bücherwelten zurückzieht und seinem Nihilismus huldigt, folgt sein Bruder Robert ihm ins Internat, zerbricht die Ehe seiner Eltern, gibt das Collegium diffuse Geheimnisse preis und wird Marko zum Verfechter der Wahrheit.

Geschichten über die ambivalente Lebensphase an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein haben von Haus aus ein großes Potential und ich lese sie sehr gern. Und doch entwickelt sich das, was Marko – streckenweise im Plauderton eines Tagebuches – erzählt, etwas anders als der Auftakt vermuten lässt. Der Schüler Marko beschreibt zunächst seinen Alltag und macht spürbar, wie die Reglementierungen und die Tristesse des Lebens im Collegium ihn belasten. Seine Erinnerungen an seine frühere Betreuerin Schwester Gemeinnutz lasten wie ein Alpdruck auf ihm und er möchte seinem Bruder, der ihm auf das Internat folgen soll, solche fast schon traumatischen Erfahrungen ersparen. Doch von der Familie ist keine Hilfe zu erwarten. Marko fühlt sich belogen und begehrt hilflos auf, doch im Grunde ist er bereits auf sich allein gestellt. Die Verbindung zurück in die Geborgenheit seiner Kindheit besteht längst nicht mehr. Der Draht in diese vergangene Welt wird nur noch durch Telefonate aufrechterhalten, bei denen, als immer wiederkehrendes schönes Sprachbild, zum Auftakt Münzen durch den Schacht des Apparates in der Telefonzelle rutschen.

Das Zerbrechen der Familie und die Nähe des Bruders verlieren sich jedoch im weiteren Verlauf des Buches. Der Fokus geht auf das Leben im Internat zurück. Die Rituale des Schulalltags und die Erlebnisse mit Freunden reflektiert Marko mit kindlichen Fantasien, die von den Helden seiner Bücher bevölkert werden. Dazu gesellen sich pubertäres Aufbegehren und die typischen Anmaßungen von Heranwachsenden. Das ist alles sehr glaubhaft und schlüssig dargestellt. Die Ausritte mit Freunden auf den gesattelten Fahrrädern ins benachbarte Dorf und die ersten unbedarften Küsse gehören zu den schönsten Episoden der Geschichte.

Die Freundschaft zu seinen Kameraden Onni, Motte und Thilo wird hingegen etwas blass dargestellt. Zwar sind sie seine Begleiter und Vertrauten, doch spielt bei Marko immer so etwas wie ein Gefühl der Überlegenheit mit. Vielleicht auch ein altersgemäßes Phänomen der Selbstwahrnehmung, das mich jedoch manchmal etwas irritierte. Genauso wie die regelmäßige Flucht in die dunkle Wolke aus Nihilismus, mit der Marko verhindert, sein Innerstes preis zu geben.

Im zweiten Teil des Buches geht es zunehmend um den Lehrer Bruder Gregor und den Hausmeister Jan Spans, die aus unerfindlichen Gründen Marko Einblick in ein Geheimnis des Collegiums geben wollen. Bruder Gregor, ein offensichtlich einsamer und unglücklicher Mann, will Marko in die ernste Lektüre der Erwachsenenwelt einführen. Er will mit ihm über Dostojewski und Seneca reden. Ich habe vergeblich nach den Gründen für diese Beziehung gesucht. Warum sucht Bruder Gregor ausgerechnet die Nähe des Schülers Marko? Und warum gibt Jan Spans dem Jungen das mysteriöse „Buch der Ordnungen“ zu lesen? Warum stoßen sie ihn so vehement auf eine alte Geschichte, mit der Marko selbst doch nichts zu tun hat? Im Grunde sind sie es, die den Jungen ermuntern, nach einer Wahrheit zu suchen, die für ihn selbst doch keine Bedeutung hat. Mag sein, ich habe die tieferen Zusammenhänge nicht verstanden. Doch ich habe vergeblich nach den Motiven für diese Entwicklungen gesucht. Marko rafft sich auf, um Lüge und Vertuschung aufzudecken, doch warum? Wem nutzt es? Er selbst handelt sich nur Nachteile ein.

Das Buch ist insgesamt lesenswert, doch ich will nicht verschweigen, dass ich etwas mehr Dramaturgie erhofft hatte. Es gibt Längen, die ungeduldig machen und nicht immer waren die Entwicklungen plausibel. Ich vermute, dass mit diesem Buch Erinnerungen und vielleicht sogar Tagebuchaufzeichnungen verarbeitet wurden. Und bekanntlich hat das Leben ja gelegentlich Wendungen, die nicht schlüssig sind und einfach akzeptiert werden müssen. Einen tiefen Einblick in das Leben in einem katholischen Internat gibt es allemal und auch der Held Marko wird mir sicher noch lange im Gedächtnis bleiben.

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(c) Lutz Schafstädt – 2022
Meine Lesezeichen – Gedanken über Bücher

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