Klaus und Dieter. Zwei alte Freunde auf einer Bank in den Dünen. Klaus, buschige Brauen und furchige Stirn. Dieter mit vernarbtem Kinn und unruhigen Händen.
Wie emporgehoben von einer Woge aus Sand sitzen sie schweigend beieinander. Eine Brise streicht durch den Strandhafer. Die Ostsee hält Mittagsruhe und atmet träge Wellen ans Ufer. Vom Strand her wehen die Stimmen spielender Kinder herüber.
Dieter schaut ihnen zu, wie sie auf den Knien rutschen, Wälle befestigen und mit zu Schalen geformten Händen Wasser in den Burggraben schaufeln. Eine Möwe gleitet vorbei, hustet einen schrillen Kommentar und gesellt sich zu den Leuten, die steif im Wasser stehen und den Mut dafür sammeln, ihre empfindsamen Bäuche mit der kalten Ostsee zu benetzen.
Klaus hat seinen Blick auf unendlich gestellt und erspürt die Weite der Welt. Er findet ein Schiff, das zielstrebig auf den Horizont zusteuert. Ein weißer Fleck auf dem Wasser, der zu einem flimmernden Punkt zerfließt und sich gleich in einem grauen Wolkenstreifen verlieren wird. Er klammert seine ganze Aufmerksamkeit daran. Jetzt nur nicht den Fokus verlieren, doch dann ist das Schiff verschwunden. Klaus glaubt, den entscheidenden Moment verpasst zu haben, als es in die Ferne sank. Ein Wimpernschlag mag ihn gestohlen haben.
„Ist doch alles beschissen“, sagt Klaus. „Da ziehst du deine Lebensbahn und am Ende fällst du unvermittelt einfach hinten runter.“
„Hier habe ich als Junge auch schon Sandburgen gebaut“, sagt Dieter, der offenkundig nicht zugehört hat. „Wir kamen fast jeden Sommer her.“
Klaus lässt seinen Blick über den Strand schweifen. „Wenn die Kinder da eines Tages auch alte Zausel sind und von dieser Bank aus zuschauen, wie die Schiffe in den Horizont entschwinden, dann werden wir schon lange nicht mehr an der Reling stehen.“
„Tja, aber solange du an Bord bist, hast du die Wahl“, antwortet Dieter nach wenigen Sekunden Bedenkzeit. „Du kannst am Heck stehen und sehen, wie der Heimathafen, der vertraute Strand, diese Kinder in der Ferne zurückbleiben, oder du gehst zum Bug und hältst nach den neuen Ufern Ausschau, denen dein Lebensschiff entgegenstrebt. Vorn ist Hoffen, hinten Wissen.“
Klaus wackelt zweifelnd mit dem Kopf. „Wenn du zu oft nach hinten schaust, verpasst du möglicherweise die gefährlichen Klippen, die plötzlich auftauchen können und dich noch früher als gedacht über Bord gehen lassen. Ich schaue lieber nach vorn, aber mal ehrlich, da kommt nicht mehr viel.“
„Aber was hinter uns liegt, das bleibt. Stell dir vor, wenn einer aus sechzig Lichtjahren Entfernung jetzt durch ein Teleskop zur Erde schaut, kann er, wenn er will, sehen, wie ich als Schulkind mein Handtuch in den Sand fallen lasse und mich gleich hier vorn in die Wellen stürze. Weil das Universum endlos ist, wird das unauslöschlich für immer und ewig möglich sein. Theoretisch jedenfalls. Ist das nicht schön? Was wir tun, bleibt für alle Zeiten in der Welt.“
Klaus schaut wieder auf das Meer hinaus. „Wie weit ist es bis zum Horizont?“, fragt er.
„Der ist ziemlich nah. Ich schätze, es sind für uns von hier aus nicht mehr als fünf, sechs Kilometer.“
„Aber von einem Leuchtturm aus, da könnten wir ein Schiff, das vom Strand aus gesehen soeben vom Horizont verschluckt wurde, noch lange verfolgen.“
„So ist das. Je höher dein Standort, je weiter die Entfernung zum Horizont.“
Natürlich weiß Klaus das selbst, doch diese Bestärkung in der Gewissheit gibt ihm ein gutes Gefühl. Er verlegt den gedanklichen Beobachtungspunkt erneut: „Und auch vom Mond aus kann man uns jetzt, in diesem Moment, hier auf der Bank beobachten?“
„Klaro. Das Licht braucht eine gute Sekunde bis dorthin, gewissermaßen ist alles, was wir von Weitem sehen, schon ein Blick in die Vergangenheit.“
„Du bist immer so schlau. Komm, lichten wir die Anker und zeigen dem Mann im Mond, wo wir uns nachmittags immer ein Gläschen Küstennebel gönnen.“
„Ja, stoßen wir auf unser bisschen Zukunft an.“
(c) Lutz Schafstädt – 2022
Meine Miniaturen: Kurze Texte, kleine Ideen, spontane Gedanken.