Wir besuchen einen stillgelegten Steinbruch bei Wendelsheim, nördlich von Rottenburg am Neckar. Der Steinbruch steht unter Naturschutz, ist von Wald umgeben und es gibt einen idyllischen kleinen See. Ein Rundweg führt an der Abbruchkante entlang bis zum Märchensee und zu einem Aussichtspunkt mit schöner Fernsicht in das Neckartal.
September 2020 | Der Märchensee ist ein perfektes Ausflugsziel für einen kleinen Spaziergang am Sonntagnachmittag. Die Runde dauert ein Stündchen und wir haben einen freundlichen Spätsommertag erwischt. Am Waldrand des Pfaffenberges wundern wir uns über einen Wegweiser, der für Märchensee und Steinbruch in entgegengesetzte Richtungen zeigt. Schon bald wissen wir jedoch: Hier beginnt und endet ein Rundweg; es ist also unmöglich, sich falsch zu entscheiden. Die dramaturgisch schönere Wanderung hat meiner Meinung nach, wer Richtung Steinbruch geht – an einem Grillplatz vorbei in den Wald, wo sich schon bald Felsen zu den Bäumen gesellen. Sie bilden eine Wand aus Stein, in der deutlich die Arbeitsspuren der Steinbrecher und die Schichtungen des Gesteins zu erkennen sind. Viele Felsen sind geborsten und von Moos bedeckt, aus den Spalten treiben Bäume und Büsche, die Natur holt sich das Terrain zurück.
Neben dem holperigen Weg haben sich in Senken entlang der Abbruchkante kleine Tümpel gebildet. Von den Kröten, die auf einer Infotafel erwähnt werden, ist aber weder etwas zu sehen noch zu hören. Dafür ist es vermutlich die falsche Jahreszeit. Tiefer im Steinbruch rücken die Felswände enger zusammen und bilden einen schattigen Hohlweg. Hier geht es im wörtlichen Sinne über Stock und Stein und Spaziergänger mit Kinderwagen oder Gehhilfen haben ihre liebe Not. Für sie ist der mit Wurzeln und Felsen gespickte Weg wenig geeignet, als Kulisse für einen Abenteuerfilm wäre er jedoch perfekt.
Auf dem Berg wurde einst Schilfsandstein abgebaut, der als Baustoff für Brücken und andere Großbauten gefragt war. Der Sandstein hat sich über Millionen von Jahren aus Sedimenten urzeitlicher Gewässer gebildet und erstarrte hier zu einer bis zu fünf Meter hohen Gesteinsschicht. Der Waldsee, in einer Senke zwischen den Felskanten, soll Anfang des 19. Jahrhunderts auf mysteriöse Weise nach einem starken Regenguss innerhalb einer einzigen Nacht entstanden sein. Zum Märchensee wurde er erst hundert Jahre später, als Tübinger Studenten ihm diesen Namen verliehen haben sollen.
Der Märchensee trägt seinen Namen zu Recht: Der Weg zwischen den Felsen öffnet sich zu einem Talkessel und die Wipfel der Bäume rauschen über einem grünen Teppich aus Wasserlinsen, auf dem Lichtflecken tanzen. Was für ein magischer Anblick! Völlig klar, nur ein mächtiger Zauber kann so etwas in einer Nacht geschaffen und mit unerklärlichen Kräften das Wasser aus der Tiefe des Berges emporgehoben haben.
Ein schmaler Pfad führt am Märchensee vorbei und wieder aus der Schlucht heraus. Nur wenige Schritte später winkt blauer Himmel zwischen den Baumstämmen und der Waldrand ist erreicht. Wir sind am südlichen Hang des Pfaffenberges und er erweist sich als Aussichtspunkt mit famoser Fernsicht. Über die Weinberge hinweg geht der Blick weit ins Neckartal bis hinüber zu den Höhen der Schwäbischen Alb; hinter Wendelsheim ist Rottenburg zu sehen, rechterhand das Dorf Wurmlingen und nach einem Schritt vom Waldrand weg rückt sogar die weiß-rot leuchtende Wurmlinger Kapelle auf ihrem Berggipfel ins Bild.
Auch den Wanderparkplatz neben der Wendelsheimer Schule erspähen wir. Gar nicht mehr weit ist es bis dorthin und auf dem abschüssigen Weg den Berg hinab werden die Schritte von allein immer schneller.
(c) Lutz Schafstädt – 2023
Unterwegs – Ausflüge und Reiseerinnerungen