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„Alles umsonst“ von Walter Kempowski

Ich habe den Roman gerade erneut gelesen – und mich bereits nach den ersten Seiten wieder über den typisch eigenwilligen Kempowski-Stil gefreut. Ich bin ein Fan seiner knappen und treffsicheren Sprache.

„Alles umsonst“ führt in den letzten Winter des Zweiten Weltkrieges, auf ein Gut in Ostpreußen. In der Ferne ist bereits der Kanonendonner der herannahenden Roten Armee zu hören, alles befindet sich in Auflösung und ein Reigen einprägsamer Figuren strandet auf dem abgelegenen Hof.

Der Hausherr ist im Krieg, seine Frau, die traumtänzerische Katharina, ist vor allem mit sich selbst beschäftigt. Ihr zarter Sohn Peter hantiert mit seinem neuen Mikroskop, derweil hat das resolute „Tantchen“ als Haushälterin die Fäden in der Hand. Von der benachbarten Siedlung aus beäugt der stramme Nazi Drygalski missgünstig das Treiben der adligen Herrschaften, denen der Krieg bisher keine großen Entbehrungen oder Opfer abverlangt hat.

Ausgehend von dieser Konstellation beginnt der Roman behutsam. Mit jedem Besucher jedoch, den es auf den Georgenhof verschlägt, verstärkt sich die Vorahnung auf das bevorstehende Unheil. Während die Vorbereitungen für die Flucht anlaufen, wagt sich Katharina – mehr aus Naivität als aus Menschlichkeit – in ein Abenteuer, das sie von der Gemeinschaft des Hofes trennen wird. So nimmt die Katastrophe für alle Beteiligten ihren Lauf, die Wogen des Krieges und einer menschenverachtenden Ideologie brechen über ihnen zusammen.

Kempowski protokolliert die Geschehnisse ohne Pathos, fast schon lakonisch. Mich fasziniert seine skizzenhafte Erzählweise. Aus Halbsätzen entstehen mit wenigen Zeilen atmosphärische, lebendige Szenerien. Fast meint man dabei zu sein, wie Kempowski beim Schreiben seine Gedanken fängt und zu einem Mosaik fügt, aus dem die Geschichte erwächst. Mit intensiven, charakteristischen Details ist man ohne Umschweife mit den Figuren vertraut. Ich bewundere diese Sprache.

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür verbindet sich für mich mit der Episode vom Besuch eines Malers. Mit dem kleinen Sohn des Hauses widmet er sich der Ahnengalerie: „Peter brachte dem Maler Watte und Wasser, und dann rückte er den Bildern zu Leibe. Er tat das äußerst zart, tupfte hier ein wenig und dort, alles sehr behutsam. ‚Das ist ja hochinteressant‘, sagte er, und er zeigte die schmutzigen Wattebäuschchen vor. ‚Aber sehr, sehr hässlich, diese Leute, diese Bilder werden Sie nirgends los.“ Der Maler begnügt sich damit, die Augen der Portraits zu säubern – und weckt sie so gewissermaßen aus einem langen Schlaf. So präpariert, ist alles vorbereitet für Sätze wie: „Er winkte auch den Ahnen an der Wand zu, die mit aufgerissenen Augen das Geschehen verfolgten.“ Und schließlich: „Das Auto fuhr davon, und die Ahnen in der Halle rissen die Augen auf.“

Für mich gelingt dem Buch eine glaubhafte Darstellung der Ereignisse in der letzten Phase des Krieges in Ostpreußen. In den Figuren spiegelt sich der Zerfall von Weltbildern, Haltungen und Werten, die bis ins Innerste von der Propaganda des Nationalsozialismus durchsetzt waren. Das Beklemmende daran ist, wie leicht sich Menschen zu Irrwegen und schließlich Unrecht verleiten lassen und wie schwer sie sich von dieser vermeintlichen Ordnung wieder zu trennen vermögen. Erst der Krieg nahm ihnen, in diesem Falle mit grausamer Härte, die Entscheidung ab.

In „Alles umsonst“ verzichtet Kempowski auf Wertungen oder Verurteilungen. Er bleibt ein Chronist, dessen nüchterner Ton den schrecklichen Ereignissen eine besonders intensive Wirkung verleiht.

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(c) Lutz Schafstädt – 2022
Meine Lesezeichen – Gedanken über Bücher

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