Das Büchlein stand in unserer Ferienwohnung im Regal, als wir vor einiger Zeit im Zollernalbkreis Urlaub machten. Gleich nach dem Abstellen der Koffer und der ersten Orientierungsrunde durch die Zimmer nahm ich es in die Hand. „Zeichne mir ein Schaf“, fiel mir ein – und ich blätterte sie auf, die tapsigen Skizzen eines Kinde, das einmal Pilot werden würde und doch nur offene und geschlossene Riesenschlangen malen kann. Wer die Geschichte vom kleinen Prinzen kennt, hat die Anfangsszene sofort wieder parat. Noch im Stehen las ich die ersten Seiten und entschied, dieses Buch zu meinem Urlaubsbegleiter zu machen. Ein unvergessliches Leseerlebnis begann.
Für mich ist ‚Der kleine Prinz‘ kein Kinderbuch, obwohl es vielfach so gesehen wird und der Autor sich ausdrücklich an Kinder wendet. Junge Leser werden keinen Schaden nehmen, mit dieser Geschichte Bekanntschaft zu machen, doch ob sie den gedanklichen Gehalt wirklich erfassen können, möchte ich in Zweifel ziehen. Für mich ist es ein Kunstgriff, der bereits in der Widmung offenbar wird. Antoine de Saint-Exupéry spricht die Kinder an, die auch alle Erwachsenen einmal gewesen sind. Er lockt die Großen zurück in die Unbedarftheit der Kindertage, sorgt für einen unverstellten Blick, lädt ein zum freimütigen Fragen und Staunen. Die Verwandlung funktioniert für jeden, der sich darauf einlässt. Denn natürlich erinnern wir uns alle an das Kind, das wir einmal waren.
Am zweiten Leseabend fiel mir auf, welch originelle Konstellation entstanden war: Der Erzähler, der Pilot, muss in der Wüste notlanden. Auch der kleine Prinz ist fern von daheim, hat seinen winzigen Asteroiden verlassen, auf dem er sich um Vulkane, Affenbrotbäume und eine Rose zu kümmern hat. Der eine muss sein Flugzeug reparieren, der andere braucht ein Schaf. Das trifft sich gut, denn auch ich, der Leser, bin gerade in der Welt unterwegs. Der Pilot und ich hören dem Prinzen zu, was er über die großen Probleme auf seinem kleinen Planeten zu berichten hat und wie er mit einem Zug wilder Vögel auf die Reise ging. Nach jeder Episode wendet sich jeder von uns wieder anderen Aufgaben zu.
So wollen wir es halten, Tag für Tag. Der Pilot schraubt an seiner Maschine, der Prinz erzählt von fremden Planeten, ich erkunde die Gegend an meinem Urlaubsort. In etwas so: Ich komme von der Burg Hohenzollern zurück, dem Stammsitz der preußischen Regenten. Der kleine Prinz ist derweil auch einem König begegnet, dem es alles bedeutet, Untertanen zu beherrschen.
Ich habe mir in Haigerloch die prächtigen Malereien in der barocken Schlosskirche angeschaut, der Prinz hat einen Eitlen kennengelernt, der immer nur bewundert werden will.
Wir sind auf Entdeckungsreise, jeder in seiner Welt. Wir sehen Neues, stellen Fragen, staunen oder wundern uns. Wir lernen dazu, machen Erfahrungen, sammeln Erlebnisse. Es entsteht ein ganz eigentümlicher Zauber. Noch im Freilichtmuseum der römischen Villa Rustica bei Hechingen, freue ich mich schon darauf, am Ende des Tages zu erfahren, was dem kleinen Prinzen heute widerfahren ist, als er beim Säufer, dem Geschäftsmann, dem Lampenanzünder oder dem Geographen war. Gut, das ist jetzt ein wenig übertrieben formuliert, und doch verschmolz irgendwie alles miteinander.
Im Buch trifft der kleine Prinz schließlich bei uns auf der Erde ein und stellt fest: Die Leute, Berufe, Charaktere und Exoten, denen er unterwegs begegnet ist, gibt es hier in ungezählten Mengen. Könige, Geschäftsleute und Lampenanzünder sind nichts Besonderes, selbst Rosen gibt es zuhauf. Verständlicherweise ist der kindliche Prinz hin- und hergerissen zwischen Verwunderung und Ernüchterung.
Nicht traurig sein, das ist ganz normal, will ich ihm sagen, auch Burgen, Kirchen und Museen, Wälder, Gipfel und Wasserfälle gibt es an jeder Ecke. Trotzdem sagen wir nicht: „Kennst du einen, kennst du alle“, sondern machen uns auf den Weg und erkunden sie für uns. Ich könnte auch ausführlich begründen, warum das so ist, doch da betritt der Fuchs den Schauplatz. Er ist ein schlauer und einfühlsamer Welterklärer, sagt viele gescheite Dinge. Wir beide, der kleine Prinz und ich, sind ziemlich überrascht, als der Fuchs auf das Wort ‚zähmen‘ zu sprechen kommt.
„Was bedeutet zähmen?“, fragt der kleine Prinz.
„Es bedeutet, sich vertraut miteinander machen“, sagt der Fuchs.
„Vertraut machen?“
„Natürlich“, sagt der Fuchs. „Du bist für mich nur ein kleiner Junge, ein kleiner Junge wie hunderttausend andere auch. Ich brauche dich nicht. Ich bin für dich ein Fuchs unter Hunderttausenden von Füchsen. Aber wenn du mich zähmst, dann werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzigartig sein. Und ich werde für dich einzigartig sein in der ganzen Welt.“
Ist das nicht grandios? Menschen und Dinge werden für uns einzigartig, weil wir uns vertraut mit ihnen machen. So einfach ist das. Das Städtchen Hechingen, wo ich heute war, ist für mich ein beliebiger Ort in Baden-Württemberg, so lange ich nicht den Schaukelweg entlang bis zum Obertorplatz geschlendert bin und neben den Wasserspielen mit Blick auf die nahe Hohenzollernburg ein Eis gegessen habe. Hinter der Stiftskirche, werde ich für immer wissen, holen sich die Schüler in der Mittagspause ihren Döner, und vor dem Rathaus steht ein neuzeitlicher Brunnen, der von der Stadtgeschichte erzählt. Ich gebe zu, das Bild ist etwas schief, man macht sich nicht vertraut bei einem ersten Besuch. Dafür braucht es mehr als nur Augenschein: nämlich echte Kontakte und viele Erlebnisse …
Mitten in diesem Gedanken überrascht und erstaunt mich der kleine Prinz erneut.
„Ich verstehe allmählich“, sagt er. „Da gibt es eine Blume … ich glaube, sie hat mich gezähmt.“
Ich bin berührt davon, wie dieser schlichte Satz die Perspektive dreht. Nicht er hat die Blume gezähmt, die Rose war es. Sie hat sich mit ihm vertraut gemacht hat, hatte Neugier und Interesse für ihn. Aber nur vermutlich. Wäre es nicht wunderbar, wenn es stimmt?
Der Fuchs bittet den Prinzen, noch einmal in den Garten zu gehen und sich die Rosen anzusehen. Er werde verstehen, dass seine Rose einzigartig ist. Und er werde zurückkommen und Abschied nehmen und der Fuchs verspricht, ihm ein Geheimnis zu verraten.
Als der Moment gekommen ist, sagt der Fuchs die legendären Worte, die das Buch über den kleinen Prinzen weltberühmt gemacht haben:
„Hier ist mein Geheimnis. Es ist sehr einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“
Ich bin bei diesen Zeilen auch schon in der Schlussphase des Urlaubs. Wir haben uns an diesem Tag aus dem ehemaligen Schiefersteinbruch Dormettingen – heute ein Erlebnispark für Besucher – eine Schieferplatte mit dem Abdruck eines Ammoniten mitgebracht. Nur ein Gesteinssplitter mit eingepresstem Muster auf der Oberfläche für alle, die ihn nicht nach geduldiger Suche zwischen den Bruchstücken des Ölschiefers entdeckt und freigeklopft haben. Es wird ein magischer Fund mit dem Wissen, das Zeugnis eines Lebewesens geborgen zu haben, das hier vor 180 Millionen Jahren lebendig war und ein seichtes Meer bewohnte. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.
Und so kündigt sich das Ende der Geschichte an: Der kleine Prinz sehnt sich nach Hause. Er spürt die Verantwortung für seinen Asteroiden, die Liebe zu seiner Rose. Er hat Heimweh. Lest nach, wie die Sache ausgeht.
Die letzten Seiten des Büchlein habe ich am Abend vor unserer Abreise gelesen und es dann wieder ordentlich an seinen Platz gestellt. Ich wünsche ihm, dass auch die nächsten Gäste in der Ferienwohnung es entdecken. Fast möchte ich dazu raten, auf Reisen immer ein Exemplar von „Der kleine Prinz“ griffbereit zu haben. Darin zu blättern, kitzelt die seltsamsten Gedanken wach. Oder sind es Gefühle?
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(c) Lutz Schafstädt – 2022
Meine Lesezeichen – Gedanken über Bücher