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„Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf

Dies ist ein weiteres Buch, das ich nach vielen Jahren erneut gelesen habe. Bei der ersten Begegnung mit ihm war ich sehr jung, an offene Grenzen oder gar ein Ende der DDR war damals nicht zu denken. Ich las es mit Begeisterung und fand mein Lebensgefühl darin gespiegelt. Der Jargon klang vertraut, auch die Sorgen und Nöte wirkten auf mich authentisch. So ticken junge Menschen, die auf der Suche nach ihrem eigenen Platz im Leben sind. Oft wird auf den gesellschaftskritischen Gehalt des Buches verwiesen, was rückblickend sicher zutrifft. Ich selbst habe es jedoch nie so empfunden, für mich war es eine Geschichte aus dem echten Leben. Vielleicht lag gerade darin die Sensation: über reale Verhältnisse und Helden abseits von Ideologie und erhobenem Zeigefinder lesen zu dürfen war nicht selbstverständlich. Aussteiger und Nonkonformität gab und gibt es immer, also auch in den 70er Jahren, in jeder Generation, sogar im eigenen Bekanntenkreis. Und das war auch schon zu Goethes Zeiten so. Ich bin mir jedoch ziemlich sicher, damals Goethes Werther noch nicht gekannt zu haben.

Ulrich Plenzdorf erzählt in seinem Buch die Geschichte von Edgar Wibeau, einem Lehrling in der ostdeutschen Provinz, 17 Jahre alt und Musterknabe. Eines Tages hat er keine Lust mehr auf das fade Erfüllen von Erwartungen und will weg von den vorgezeichneten Pfaden. Edgar möchte Künstler werden und geht nach Berlin, doch sein Traum erfüllt sich nicht. Er taucht ab in der großen Stadt, zieht in eine verlassene Gartenlaube, wird Nachbar eines Kindergartens und lernt die Erzieherin Charlie kennen. Er verliebt sich in sie, doch sie ist verlobt. Damit sind alle Weichen gestellt für eine Geschichte wie bei Goethe: Edgar ist Werther, Charlie ist Charlotte, Liebesschmerz ist entfacht, die Welt will erobert, das Leben gemeistert werden. Fehlt nur noch der Klassiker selbst: Den findet der junge W. als zerfleddertes Exemplar auf seinem Gartenklo.  

Auf den jungen Helden wartet ein tragisches Ende. Das weiß der Leser bereits von der ersten Seite an, denn das Buch beginnt mit Todesanzeigen. Gewissermaßen aus dem Jenseits meldet sich Edgar zu Wort, beteiligt sich am Erzählen seiner Geschichte und schaut dabei zu, wie die Menschen aus seinem Umfeld versuchen, die Hintergründe seines Todes zu ergründen. Diese Konstellation ermöglicht einen Reigen an Erzählperspektiven, der mich wirklich fasziniert hat. Der Vater, lange ohne Kontakt zu seinem Sohn, begibt sich auf Spurensuche und führt Gespräche mit der Freundin Charlie, seinen Kollegen und seinem Freund Willi. Und immer wieder ist der junge W. mit seinen Kommentaren von der Seitenlinie präsent. Das ergibt eine frische und lebendige Mixtur, die mir sehr gefällt.

Als weiteren Aspekt möchte ich noch auf die Sprache im Buch aufmerksam machen. Willi, Edgars Freund seit Kindertagen, erhielt von ihm besprochene Tonbänder. Auf ihnen versucht Edgar, seine Gedanken und Gefühle zu artikulieren. Weil ihm das schwerfällt, bedient er sich bei Goethe und dessen altertümlicher Kunstsprache. Auch sonst bringt er bei jeder sich bietenden Gelegenheit Zitate aus dem Werther an, erntet damit jedoch vor allem Unverständnis und Verwunderung. Selbst seinem Freund Willi sind die Tonbänder irgendwann nicht mehr geheuer.

Für mich ist es ein großes Lesevergnügen, wie sich flapsige Jugendsprache und gestelzte Klassikerzitate vermischen, wie unaufhörlich die Perspektiven wechseln und schließlich ein Gesamtbild von Edgars letzter Lebensphase entsteht.

Ich bin der Meinung, dieses Buch kann auch heute noch gelesen werden. Es ist mehr als ein Zeitdokument der 70er Jahre in der DDR, mehr als Kritik an Gängelei, Einengung und Ideologie. Es erzählt allgemein von den Sehnsüchten junger Menschen, von ihrer Suche nach Liebe, Anerkennung, Selbstverwirklichung und Individualität. In jeder Generation, immer wieder von Neuem.   

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(c) Lutz Schafstädt – 2025
Meine Lesezeichen – Gedanken über Bücher

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