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„Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler

Das Buch erzählt von Andreas Egger, dem die Vorsehung ein Leben als Hilfsarbeiter zugeteilt hat. Bereits auf den ersten Seiten erfährt der Leser einiges über ihn. Da bürdet er sich den halb erfrorenen Hörnerhannes auf den Buckel, um ihn ins Tal zu schleppen. Der erholt sich unterwegs, plaudert mit ihm über den Tod und verkrümelt sich ohne Dank im winterlichen Unterholz. Stark ist er also, der Egger, hilfsbereit und gutmütig. Im Dorf angekommen, elektrisiert ihn im Wirtshaus eine Berührung mit der neuen Kellnerin. Liebe liegt in der Luft – und ein Eisbrocken fliegt durch die Luft, als Kinder ihn als Hinkebein verlachen. So fängt die Geschichte an, in der, wie sich später herausstellen wird, schönsten Zeit seines Lebens.     

In den Jahren davor war Egger niemals Kind und immer Knecht. Er wuchs ohne Eltern bei einem Bauern auf, der ihn misshandelte und ihm dabei den Oberschenkel brach, was ihn auf Lebenszeit zum Humpeln zwang. Er wurde körperlich stark, blieb schwach im Denken und kam nie aus dem Tal heraus, in dem er lebte. Als er erwachsen ist, wir sind zeitlich in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, verliebt er sich in Marie, das Mädchen aus dem Wirtshaus, und mit einem Bautrupp kommt die moderne Zeit ins Tal, denn es soll eine elektrische Seilbahn gebaut werden.  

In den Jahren danach erlebt Egger ein kurzes Glück, findet beim Bautrupp Arbeit und Kollegen und zieht in den Krieg nach Russland. Das einfache Leben eines schlichten Mannes ohne große Ambitionen, der sich mit dem arrangiert, was das Schicksal ihm zuweist.

Eggers Leben ist trist, jedoch keine Tragödie. Es hat seinen Mittelpunkt in einem abgelegenen Tal, doch es ist keine Idylle wie im Heimatfilm. Es ist seine Lebensgeschichte. Robert Seethaler erzählt sie zügig herunter, bis auf wenige ausgebreitete Schlüsselszenen geht es fast wie im Galopp voran. Das lässt viele ereignislose Jahre in Eggers Biografie vermuten. Die Situationen sind rar, in denen er wirklich selbst aktiv wird. Er führt ein einfaches Leben, das auf der Welt fast keine Spuren hinterlässt. Weil das auf die meisten Menschen zutrifft, fühlt die Geschichte sich wahr an.

Es ist ein lesenswerter Roman, an dem ich nicht herummäkeln will. Er ist zügig und gut zu lesen. Ich persönlich hätte mir etwas mehr erzählerische Nähe zu den Gedanken des Protagonisten gewünscht. Sein schlichtes Gemüt gab vermutlich nicht mehr her. Manchmal ging es mir zu schnell voran und empfand ich die Zeitsprünge als zu groß. Ein paar mehr Seiten hätten gut und gern noch Platz in dem Büchlein gehabt.  

Am Ende hatte ich das Gefühl, etwas zu vermissen. Ich glaube, es war die Gemeinschaft im Tal, die mir zu kurz kam. Sind die Familien in einem abgelegenen Dorf nicht üblicherweise eine Schicksalsgemeinschaft, in der einer für den anderen einsteht? Ich hätte das angesichts der Enge und Abgeschiedenheit des Tales erwartet. Doch Andreas Egger ist ziemlich auf sich allein gestellt. Niemand steht ihm zur Seite oder hilft ihm. Er findet in Marie seine große Liebe, aber Freunde im Dorf hat er nicht. Er hat eine schlimme Kindheit, doch die Gemeinschaft schaut weg. Einziger Lichtblick sind seine Kollegen vom Bergbahnbau, als sie ihm freundschaftlich helfen, am Berg seinen Heiratsantrag für Marie zu inszenieren. 

Kann sein, das Buch wäre dadurch in die Melodramatik der Heimatromane abgedriftet. So bleibt der Fokus durchgängig bei Andreas Egger und seinem über weite Strecken einsam wirkenden Lebensweg. Ob es ein erfülltes oder bemitleidenswertes Leben war, darf jeder Leser für sich entscheiden. Auf jeden Fall ist es einzigartig, wie jedes Leben einmalig ist. 

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(c) Lutz Schafstädt – 2024
Meine Lesezeichen – Gedanken über Bücher

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