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Der humorvolle Vogel

In der Schutzhütte am Talblick über der Saarschleife hängt eine große Holztafel mit einem Gedicht von Wilhelm Busch an der Wand. Ich weiß nicht, ob dem heute noch so ist. Bei meinem Besuch 2013 war es so. Ich habe mit meinem Fotoapparat das mächtige Schild auf das Format einer beschrifteten Plakette geschrumpft und eingesteckt. Das Bild habe ich seither immer wieder angeschaut, es ist für mich ein wichtiges Fundstück mit Symbolwert.

Natürlich wirken die Zeilen von dem Vögelchen, dem der grimmige Kater nachstellt, anders, wenn man einen Windhauch aus dem Tal im Nacken spürt, den Abgrund zum Fluss hinter sich weiß und eben noch in eine schier grenzenlose Weite geschaut hat. Ein ganzer Himmel voller Freiheit und der Piepmatz klebt an der Hütte fest. Ringsherum präsentiert die Natur, wie spielerisch sie mit Urgewalt Landschaften zu formen vermag und zwangsläufig fühlen wir Menschen uns klein und verloren.

Vor einem betörend schönen, wohl die ganze Welt umfassenden Panorama stehen wir als Winzlinge an einem niedrigen Mäuerchen, das uns vor dem Fall in die Tiefe schützen soll. Und stürzten wir hinab oder trüge uns ein Raubvogel mit seinen Krallen am Hosenbund davon, würde sich etwas verändern an diesem Bild vor uns? Ewig und zeitlos erscheint es, was wir nun einmal ganz und gar nicht sind. Beständigkeit trifft Vergänglichkeit. Da passt es gut, wenn ein paar zünftig gereimte Verse für ein Kontrastprogramm sorgen.

Mit Heiterkeit und Optimismus schütteln wir verzagte Gedanken von uns ab – und können dann wieder nach Herzenslust die herrliche Aussicht bewundern. Genießen wir den Moment. Ja, es ist schön hier. Zum Wiederkommen schön.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der sich für mich mit diesem Bild verbindet. Für einen Vogel in verzweifelter Lage hielt ich mich damals auch. Der Besuch an der Saarschleife markiert die zeitliche Mitte zwischen meiner Krebsdiagnose und dem Operationstermin. Im Februar gab es die schlechte Nachricht, im April sollte in der Charité das Problem mit dem Skalpell angegangen werden und im März machten wir uns auf eine Reise ins Saarland, um etwas Ablenkung zu suchen. Es waren Wochen voller Ungewissheit. Sorgen, Ängste, Verzweiflung – es gibt viele Wörter, die das Gedankenchaos (jedes für sich jedoch unzureichend) beschreiben. Ich fühlte mich wehrlos, in einer Sackgasse. Ich war das Vögelchen, die Katerkrallen direkt hinter mir. Warum breite ich nicht einfach meine Flügel aus und mache mich davon? Ich klebe fest, es gibt kein Entrinnen. Ich bin den Dingen ausgeliefert, die da auf mich zukommen. Und wo das Vögelchen zu singen begann, habe ich mich auf Reisen begeben. Es ist ein ähnliches Konzept. Es wurden schöne Tage, die mich das Kranksein und die Grübeleien tatsächlich immer wieder vergessen ließen. Schöne Erlebnisse, neue Eindrücke, gutes Essen, frohe Stunden. Ich wollte zwitschern, auch wenn das Unheil mir auf den Fersen war.

Und siehe da: Es gibt mich noch. Der Kater ist fort. Versierte Helfer haben ihn vertrieben, noch ehe er mich mit seinen Krallen packen und zerreißen konnte. Und jedem Vögelchen sei zugerufen: Solange man lustig pfeifen kann, sind Lebensmut und Hoffnung nicht vergebens. Ich wünsche jedem, der ähnliches durchlebt, die Kraft und den Beistand, die dafür nötig sind.

(c) Lutz Schafstädt – 2021
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