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„Rheinsberg“ von Kurt Tucholsky

Über einhundert Jahre alt ist dieses „Bilderbuch für Verliebte“. 1912 erschien es zum ersten Mal. Gerade habe ich es erneut gelesen und blättere beschwingt zurück, erfreue mich wieder und wieder an den vor langer Zeit von mir markierten Textstellen: So viele schöne Gedanken und lebensvolle Sätze, so viel Heiterkeit und Übermut – so viel Jugend.

Die Handlung der Geschichte selbst ist unspektakulär. Das Pärchen Claire und Wolfgang verbringen ein Wochenende in Rheinsberg, lassen für ein paar schwerelose Tage ihren Alltag in Berlin hinter sich, schauen, schlendern und plaudern, wie es bis heute alle Ausflügler tun, sind sich selbst genug und genießen ihr Glück.

Sie sind jung. Aus diesem einem Attribut entfaltet sich der unverwechselbare Zauber der Geschichte und ruft das ganze Arsenal der damit verbundenen, positiven Adjektive auf den Plan: Lebendig, optimistisch und kraftvoll sind die Beiden, übermütig, respektlos, fröhlich, verspielt, sorglos, offenherzig. Sie sprühen geradezu vor positiver Energie, machen alles und jeden zur Projektionsfläche ihrer unbekümmerten Beziehung, gehen auf in einem Lebensgefühl, das ganz und gar Jugend ist. Sie nehmen sich an Freiheit, was greifbar ist, ignorieren Konventionen und necken sich in ihrer eigenen Sprache.

Diese Frische überträgt sich bis heute auf den Leser und mit Blick auf die Zeit des Preußentums am Vorabend des ersten Weltkrieges, als dieses Buch erschien, lässt sich leicht nachvollziehen, welches Aufsehen die Geschichte erregte und wie sie mit den überkommenen Moralvorstellungen kollidierte.

Meine Lieblingsszene ist das Finale der Erzählung. Am Ende des letzten Tages, kurz vor der Abfahrt, machen Claire und Wolfgang einen Spaziergang, hören aus einer Villa Musik auf die Straße dringen und lauschen: „Und da brach die Lustigkeit prasselnd durch: In tausend kleinen Achteln, die klirrten, wie wenn glitzernde Glasstückchen auf Metall fielen, brach sie durch, die Geigen jubelten und kicherten, die Bässe rummelten fett und amüsiert in der Tiefe, und auch der Zinkenist machte keinen Hehl daraus, dass ihn das Ganze aufs höchste erfreute. Der Teil wiederholte sich, wieder kletterten die Geigen in die schwindelerregende Höhe, guckten von ihrem hohen Sopran in die Welt, und schließlich lösten sich die Töne auf zierliche, spielerische Weise in nichts auf.“ Es liegt auf der Hand, wie die Szene endet: „Und da packte es die zwei, und sie drehten sich lang, schwebend, und sie tanzten auf dem struppigen Rasen, schweigend, ruhig anfangs, dann schneller und schneller … Noch einmal bliesen die Fanfaren königlich und stolz, kaum wiederzuerkennen das Thema, dann wirbelten die beiden tanzend den Abhang hinunter.“

„Rheinsberg“ ist eine Geschichte über Liebe und Lebensfreude, wie sie zu allen Zeiten junge Menschen erfasst und ihre Gefühle in Aufruhr versetzt. Vor hundert Jahren, zur Zeit unserer Urgroßeltern, genauso wie heute.

„Jung sein, voller Kraft sein, eine Reihe leuchtender Tage – das kommt nie wieder! Heiter Glück verbreiten! – Wir wollen uns Erinnerungen machen, die Funken sprühen!“ So ein Buch ist das – und jeder sollte es gelesen haben.

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(c) Lutz Schafstädt – 2020
Meine Lesezeichen – Gedanken über Bücher

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