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„Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry

Das Büchlein lag in unserer Ferienwohnung, als wir kürzlich im Zollernalbkreis ein paar Tage Urlaub machten. Gleich nach dem Abstellen der Koffer und der ersten Orientierungsrunde durch die Zimmer nahm ich es vom Regal. „Zeichne mir ein Schaf“, fiel mir ein – und ich blätterte vor, zu den tapsigen Skizzen des Autors, der doch nur offene und geschlossene Riesenschlangen malen kann. Wer die Geschichte vom kleinen Prinzen kennt, hat die Anfangsszene sofort wieder parat. Am Abend las ich die ersten Seiten und entschied, dieses Buch zu meinem Urlaubsbegleiter zu machen. Die schöne Sprache, die unbeschwerte, kindlich naive Sichtweise, der sanftmütige Tonfall und nicht zuletzt die kurzen Kapitel – alles sprach dafür und wurde mit einem Lesezeichen besiegelt. Ein kurioses Leseerlebnis begann. 

Für mich ist ‚Der kleine Prinz‘ kein Kinderbuch, obwohl es vielfach so gesehen wird und der Autor sich ausdrücklich an Kinder wendet. Junge Leser werden keinen Schaden nehmen, mit dieser Geschichte Bekanntschaft zu machen, doch ob sie den gedanklichen Gehalt wirklich erfassen, möchte ich in Zweifel ziehen. Für mich ist es ein Kunstgriff, der schon in der Widmung offenbar wird. Antoine de Saint-Exupéry spricht die Kinder an, die auch alle Erwachsenen einmal gewesen sind. Er lockt die Großen zurück in die Unbedarftheit der Kindertage, sorgt für einen unverstellten Blick, lädt ein zum freimütigen Fragen und Staunen. Die Verwandlung funktioniert für jeden, der sich darauf einlässt. Denn natürlich erinnern wir uns an das Kind, das wir einmal waren. 

Am zweiten Leseabend fiel mir auf, welch originelle Konstellation entstanden war: Der Erzähler, ein Pilot, muss in der Wüste notlanden. Der kleine Prinz hat seinen winzigen Asteroiden verlassen, auf dem er sich um Vulkane, Affenbrotbäume und eine Rose zu kümmern hat. Der eine muss sein Flugzeug reparieren, der andere braucht ein Schaf. Beide sind fern der Heimat. Das trifft sich gut, denn auch ich, der Leser, bin gerade in der Welt unterwegs. Der Pilot und ich hören zu, was der Prinz über die großen Probleme auf seinem kleinen Planeten offenbart und wie er mit einem Zug wilder Vögel auf die Reise ging. Danach wendet sich jeder wieder anderen Aufgaben zu. 

So geht es weiter, Tag für Tag. Der Pilot schraubt an seiner Maschine, der Prinz berichtet von besuchten Planeten, ich erkunde die Gegend. Ich komme von der Burg Hohenzollern zurück, der Prinz ist einem König begegnet, dem es alles bedeutet, Untertanen zu beherrschen. Ich habe mir in Haigerloch die prächtigen Malereien in der barocken Schlosskirche angeschaut, der Prinz hat einen Eitlen kennengelernt, der immer nur bewundert werden will. Wir sind auf Entdeckungsreise, jeder in seiner Welt. Wir sehen Neues, stellen Fragen, staunen oder wundern uns. Wir lernen dazu, machen Erfahrungen, sammeln Erlebnisse. Es entsteht ein ganz eigentümlicher Zauber. Noch im Freilichtmuseum der römischen Villa Rustica bei Hechingen, freue ich mich schon darauf, am Ende des Tages zu erfahren, was dem kleinen Prinzen heute widerfahren ist, als er beim Säufer, dem Geschäftsmann, dem Lampenanzünder oder dem Geographen war. Gut, das ist jetzt ein wenig übertrieben formuliert, und doch verschmolz irgendwie alles miteinander.   

Schließlich trifft der kleine Prinz bei uns auf der Erde ein und stellt fest: Die Leute, Berufe, Charaktere und Exoten, denen er unterwegs begegnet ist, gibt es hier in ungezählten Mengen. Könige, Geschäftsleute und Lampenanzünder sind nichts Besonderes, selbst Rosen gibt es zuhauf. Verständlicherweise ist der kindliche Prinz, hin- und hergerissen zwischen Erstaunen und Unverständnis, erst einmal enttäuscht und fühlt sich betrogen. Nicht traurig sein, das ist ganz normal, will ich ihm sagen, auch Burgen, Kirchen und Museen, Wälder, Gipfel und Wasserfälle gibt es an jeder Ecke. Trotzdem sagen wir nicht: ‚Kennst du einen, kennst du alle‘, sondern machen uns auf den Weg und erkunden sie. Ich könnte auch begründen, warum, doch da betritt der Fuchs den Schauplatz. Er ist ein schlauer und einfühlsamer Welterklärer. Wir, der kleine Prinz und ich, sind beide überrascht, als das Wort ‚zähmen‘ fällt.

„Was bedeutet zähmen?“, fragt der kleine Prinz.

„Es bedeutet, sich vertraut miteinander machen“, sagt der Fuchs. 

„Vertraut machen?“ 

„Natürlich“, sagt der Fuchs. „Du bist für mich nur ein kleiner Junge, ein kleiner Junge wie hunderttausend andere auch. Ich brauche dich nicht. Ich bin für dich ein Fuchs unter Hunderttausenden von Füchsen. Aber wenn du mich zähmst, dann werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzigartig sein. Und ich werde für dich einzigartig sein in der ganzen Welt.“     

Ist das nicht grandios? Menschen und Dinge werden für uns einzigartig, weil wir uns vertraut mit ihnen machen. So einfach ist das. Das Städtchen Hechingen, gleich nebenan, ist ein beliebiger Ort in Baden-Württemberg, so lange man nicht den Schaukelweg entlang bis zum Obertorplatz geschlendert ist und neben den Wasserspielen mit Blick auf die Hohenzollernburg ein Eis gegessen hat. Zugegeben, dieses Bild ist etwas schief, und doch stimmt es: Es macht einen Unterschied, sich die Mona Lisa in einem Magazin zu betrachten oder ihr im Louvre unmittelbar gegenüberzustehen und vermeintlich die Gegenwart Leonardo da Vincis zu spüren, selbst wenn das Gemälde hinter Panzerglas verborgen und man selbst im Gedränge des unablässigen Stroms der Museumsbesucher gefangen ist. Man wird die Mona Lisa von da an und für immer mit anderen Augen sehen – nachdem man sich mit ihr vertraut gemacht hat. 

Da verblüfft und überrascht mich der kleine Prinz. 

„Ich verstehe allmählich“, sagt er. „Da gibt es eine Blume … ich glaube, sie hat mich gezähmt.“ 

Ich bin berührt davon, mit welcher Sensibilität dieser schlichte Satz die Perspektive dreht. Nicht er hat die Blume gezähmt, die Rose war es, die sich mit ihm vertraut gemacht hat. Und das auch nur vermutlich. 

Der Fuchs bittet den Prinzen, noch einmal in den Garten zu gehen und sich die Rosen anzusehen. „Du wirst verstehen, dass deine Rose einzigartig ist. Du wirst zu mir zurückkommen und mir Lebewohl sagen und ich werde dir ein Geheimnis verraten.“ 

Als der Moment des Abschieds gekommen ist, sagt der Fuchs die legendären Worte, die das Buch über den kleinen Prinzen weltberühmt gemacht haben: „Hier ist mein Geheimnis. Es ist sehr einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ 

An diesem Tag haben wir uns eine Schieferplatte mit dem Abdruck eines Ammoniten aus dem Schiefererlebnis Dormettingen mitgebracht. Nur ein Gesteinssplitter mit eingedrücktem Muster auf der Oberfläche für alle, die ihn nicht auf dem Fossiliensammelplatz im ehemaligen Steinbruch nach geduldiger Suche zwischen den Bruchstücken des Ölschiefers entdeckt und freigeklopft haben, als Zeugnis eines Lebewesens, das hier vor 180 Millionen Jahren ein seichtes Meer bewohnte. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.    

Der kleine Prinz will nach Hause. Er spürt die Verantwortung für seinen Asteroiden, die Liebe zu seiner Rose. Doch es geht nicht ohne Wehmut, Trennungsschmerz und Trauer. Lest es nach, wenn ihr das Buch noch nicht kennt. 

Die letzten Seiten habe ich am Abend vor unserer Abreise gelesen und das Buch dann wieder ordentlich an seinen Platz gelegt. Ich wünsche ihm, dass auch die nächsten Gäste in der Ferienwohnung es entdecken. Fast möchte ich raten, auf Reisen immer ein Exemplar von „Der kleine Prinz“ griffbereit zu haben. Darin zu blättern, kitzelt die seltsamsten Gedanken wach. Oder sind es Gefühle?

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(c) Lutz Schafstädt – 2022
Meine Lesezeichen – Gedanken über Bücher

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