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„Wiesinger“ von Jens Wonneberger

Der Roman erzählt die Geschichte von Boris Wiesinger. Kurz vor dem Ende der DDR aus Gesinnungsgründen vom Medizinstudium ausgeschlossen, verdingt er sich als Friedhofsgärtner und Totengräber in einer sächsischen Kleinstadt. Er ist ein Aussteiger und Oppositioneller, der sich vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen in den begrenzten Dimensionen seiner kleinen Welt inszeniert. Mit der Wende fällt er ins Leere und ist plötzlich verschwunden.

Jens Wonneberger protokolliert die Geschichte eines Freundes, nicht die einer Freundschaft. Von Beginn an ist eine auffällige Distanz spürbar. Als Berichterstatter bleibt der Autor in einer beobachtenden Position, bei der sich die Wege gelegentlich kreuzen, doch beeinflussen sie ihre Lebenswege gegenseitig nur marginal. Diese Perspektive gibt dem Roman eine eigentümliche Aura. Durchgängig wird der Freund, der Held des Buches, nur mit dem Nachnamen bezeichnet.

Interessant ist die Eröffnung des Romans. Der Autor nimmt gewissermaßen vor dem Leser Platz und unterbreitet sein Vorhaben, die Lebensgeschichte seines Freundes Boris Wiesinger zu erzählen. Dieser selbst habe ihn darum gebeten alles aufzuschreiben und er habe ihm sogar das Versprechen dafür abgenommen. Doch der Autor hadert mit sich, fürchtet zu scheitern. Aber da sein Freund vermutlich tot ist, fühlt er sich verpflichtet.

Weit ausholend öffnet sich die Welt des Romans. Ausgehend von einer Selbstreflexion wird Wiesinger vorgestellt, als zerzaust wirkender, bärtiger Anarchist, der seinen Lebensunterhalt als Totengräber verdingt. Für das Leben davor stehen der Wehrdienst bei der NVA und vier Semester Medizinstudium. Umrahmt wird sein Alltag von einer kleinstädtischen Idylle mit Klatsch und Tratsch, wobei Wiesinger darauf bedacht ist, den mit seinem Beruf verbundenen Vorurteilen gerecht zu werden. Er gibt sogar eine Alkoholsucht vor, um als gescheiterte Existenz zu gelten. Szenisch wird das Buch erstmals gegen Ende des ersten Kapitels, als der Autor und sein Freund noch als Schulkameraden einen Schädel aus einer Gruft des Friedhofs stehlen. Später wird Wiesinger mit solchen „Exponaten“ einen florierenden Handel treiben.

Während im weiteren Verlauf immer mehr Ereignisse auf die Zuspitzung der inneren Konflikte der DDR hinweisen, engagiert sich Wiesinger mit kleinen Aktionen als Oppositioneller, schließt sich Bürgerrechtsgruppen an und versucht sich als Autor. Die Wendezeit trägt ihn jedoch nicht den Strudel der Geschehnisse, sondern spült ihn in Abseits.

Der Roman hat mich etwas ratlos zurückgelassen. Vielleicht lag es daran, dass Jens Wonneberger es als Erzähler vermieden hat, selbst klar Position zu beziehen oder eindeutig zu werten. Trotz skurriler Episoden fehlen die Lebensfreude und der Optimismus junger Menschen. Der Trostlosigkeit des Alltags der Protagonisten war augenscheinlich auch durch Verweigerung nicht zu entrinnen. Früh wird klar, dass Wiesingers Lebensentwurf nur scheitern kann.

Eine stilistische Besonderheit ist der sehr forcierte Einsatz von relativierenden und verneinenden Formulierungen. Der Autor ist stets bestrebt zu betonen, was alles nicht gemeint, geschehen und gewollt war, bevor sein Protokoll weitergeht. Die Seiten sind auffällig durchsetzt von diesem negativ gefärbten Satzbau. Zum Beispiel: „Wenn mich damals jemand nach Wiesinger gefragt hätte, wäre es mir nicht schwergefallen, ihn meinen Freund zu nennen.“ Warum nicht leicht? Oder: „Ich weiß nicht, ob Wiesinger durch diese Dienstreise …“, „Auch der Pfarrer kam nicht umhin …“ Ich bin selten in einem Buch so vielen „nicht“ und „kein“ begegnet.

In dem Roman werden immer wieder Fragen aufgeworfen, die offen bleiben, weil nur Wiesinger sie hätte beantworten können. Doch Wiesinger ist verschwunden. Und der Autor geht nicht nah genug an seinen Helden heran, um ihn aus einer lebensnahen Freundschaft heraus zum Sprechen zu bringen. Diese Distanz ist schade. Insgesamt ist der Roman jedoch eine Leseempfehlung wert, weil er ein wichtiges Stück Zeitgeschichte in das trübe Licht kleinstädtischer Verhältnisse taucht.

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(c) Lutz Schafstädt – 2022
Meine Lesezeichen – Gedanken über Bücher

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