Als sich heute der Abendhimmel färbte, fielen mir die “rot gelaufenen Wangen” bei Rilke ein. Natürlich habe ich nachgeblättert und es hat ein wenig gedauert, bis ich es hatte. Ich dachte, im Titel müsse das Wort “Abend” vorkommen, doch es heißt “Stimmungsbild” und ist ein sehr berührendes Sommergedicht. Obwohl Rilke, als er es schrieb, noch keine zwanzig Jahre alt war, gelang es ihm meisterhaft, Gefühle in bildstarke Worte zu fassen. Hier kündigt sich ein Dichter an und ich hebe mir seine Verse hier als Fundstück auf. Zum immer wieder lesen – nicht nur am Ende eines Sommertages .
Stimmungsbild
Graue Dämmerungen hängen
überm weiten Wiesenplan,
müd, mit rot gelaufnen Wangen
kommt der Tag im Westen an.Atemlos dort sinkt er nieder
hinter Hängen goldumsäumt,
seine lichtermatten Lider
fallen mählich zu. Er träumt.Träumt manch sonnig Traumgebilde.
Rainer Maria Rilke (verfasst 1894)
Leis vom Himmel schwebt dahin
jetzt die Nacht und neigt sich milde,
sternelächelnd über ihn.
So schön kann ein Tag zu Ende gehen. Für mich ein Sommergedicht, obwohl die Jahreszeit mit keinem Wort erwähnt wird. Die Zeilen fühlen sich mild und luftig an – und ganz gewiss sitzt der Beobachter im Freien, bestenfalls im Gras auf einem Hügel und müde vom Tag, und schaut dem Abend zu.