Wir sind für ein langes Wochenende in Heringsdorf auf der Ostseeinsel Usedom. Heringsdorf gehört zu den berühmten Kaiserbädern. Mangels Badewetter ist es unser Ausgangspunkt für Ausflüge in die Umgebung.
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Mai 2008 – Heringsdorf, Ahlbeck und den Strand dazwischen haben wir uns gestern gründlich angeschaut. Heute soll es der Tag für den Usedom-Gesamteindruck werden. Gleich nach dem Frühstück fahren wir Richtung Swinemünde bis zum Markt an der polnischen Grenze. Er ist überregional bekannt und wirklich groß. Es herrscht bereits reges Treiben, ein Bus nach dem nächsten schafft Kundschaft heran. Weil wir nur einmal schauen und nichts kaufen wollen, begnügen wir uns mit einem kurzen Spaziergang zwischen den Buden. Dieses Gewirr aus Ladenzeilen ist nicht das, womit wir unseren Tag verbringen wollen. Wir drehen bei und orientieren uns nach Nordwesten, immer die Bäder-Chaussee entlang. Ahlbeck, Heringsdorf, Bansin, Koserow – unser nächster Halt ist Zinnowitz. Wir wollen nah an den Strand, von der Seebrücke aus auf die Ostsee blicken und uns dann in ein Café an der Promenade setzen. Pausen kann man nie genug haben. Wir finden ein sonniges Plätzchen in guter Hörweite zur Konzertmuschel, wo gerade eine musikalische Matinee für uns stattfindet. Ein Trio gibt eine Mischung aus Swing, Schlagern und Shantys zum Besten.
Wie wäre es danach mit einem Abstecher nach Peenemünde? Der Kaffee ist ausgetrunken, der Tag noch jung. Es ist von hier nicht mehr weit dorthin und den Ort wollte ich schon immer einmal sehen. Peenemünde fühlt sich für mich nicht wie ein Ausflugsziel an, eher als Gedenk- oder Erinnerungsort für einige der dunklen Kapitel deutscher Vergangenheit. Wer hätte nicht schon davon gehört?




In den 30er Jahren übernahm die Wehrmacht den Nordzipfel der Insel, verdrängte die Einwohner, und das Areal blieb bis zum Ende der DDR militärisches Sperrgebiet. In dieser Zeitkapsel vermengen sich ein heißer und ein kalter Krieg, beides Weltkriege, Rüstungswahn und Innovationskraft, menschliches Leid und technischer Fortschritt. Heute sind Zäune und Posten verschwunden, man kann vorfahren, fast bis an das alte Kraftwerk, einem massigen Bau mit Klinkerfassade und schmalen Fensterschlitzen. Er ist einer der vielen Bauten, die hier vor dem Zweiten Weltkrieg für die Heeresversuchsanstalt Peenemünde errichtet wurden. Auf der Freifläche daneben steht der Zweck des Ganzen, die hier – geheim und koste es, was es wolle – entwickelte Rakete. Auf dünne Stahlstreben gestellt, aufrecht und spitz in den Himmel weisend, mit ihrem markanten schwarz-weißen Karomuster auf den Leitwerken und der Außenverkleidung, die Vergeltungswaffe, die V2, die eine neue Waffengattung begründet und zudem das Tor in den Weltraum geöffnet hat.
Doch steigen wir erstmal aus. Im Kraftwerk gibt es Informationen über das Raketenprogramm des NS-Regimes. Museum klingt etwas unpassend für mich. Oder ist es etwa ein museales Thema, wie technische Errungenschaften auf dem neuesten Stand der Wissenschaft in den falschen Händen zu todbringenden Instrumenten werden können? Ein unfassbares Spannungsverhältnis. Das Raketenprogramm legte den Grundstein für die Raumfahrt und von Peenemünde aus glückte zum ersten Mal der Abschuss eines Flugkörpers ins Weltall. Doch angetrieben wurde der Fortschritt durch ein anderes Ziel. Die hier erprobte und produzierte V2 bewirkte eine neue Dimension von Tod und Zerstörung, die sie unaufhaltsam über den Ärmelkanal nach London und andere britische Städte trug. Die Alliierten versuchten nach Kräften, den Bau der Raketen zu stören, doch trafen ihre Bomben auch Hunderte ausgezehrte Zwangsarbeiter, für die hier keine schützenden Bunker vorgesehen waren. Nach dem Krieg besetzte die Rote Armee das Gelände, brachte Technik und Know-how in die Sowjetunion und versuchte die Hinterlassenschaften zu sprengen. Die Amerikaner holten sich die deutschen Forscher, allen voran Wernher von Braun, nach Amerika, und schon bald sollte die nächste Runde im Wettrüsten beginnen.
Was hier in Peenemünde geschah, beeinflusste die Weltgeschichte. Viele Spuren gibt es nicht mehr, doch sie hätten vermutlich auch nicht als Attraktionen getaugt. Die wenigen Gebäude, einige Bunker und Ruinen, viele Fundamentreste sind Erinnerungsstücke genug. Der Hafen ist noch da, den Flugplatz gibt es noch, immer noch sind beträchtliche Gebiete wegen Munitionsverseuchung gesperrt. Wir schauen uns ein paar leerstehende Kasernengebäude aus Wehrmachtszeiten an, in denen bis 1990 noch NVA-Soldaten untergebracht waren. Die DDR übernahm das Areal von den Sowjets und nutzte den Hafen als Marinestützpunkt und am Flugplatz wurde ein Jagdfliegergeschwader stationiert. Auch für diese Zeit gibt es ein Museum.
Wir gehen auf verwilderten Wegen, stehen vor Geisterhäusern mit vernagelten Fenstern, blicken auf überwucherte Mauern und Müllberge. Was einmal war, scheint fort, ist wie ein böser Spuk verschwunden. Ob sich eine friedliche Zukunft hierher traut?
An der Hafenmauer grüßt schon wieder die Vergangenheit. Hier liegt die U-461, ein U-Boot der ehemaligen Baltischen Rotbannerflotte, vor Anker. Ein dunkelgrauer, riesenhafter Koloss aus Stahl, mit bedrohlich ausgefahrenen Abschussröhren und rotem Sowjetstern an den Aufbauten. Zwei Schlepper, so ist an einer Info-Tafel zu lesen, brachten das konventionell angetriebene Unterseeboot erst 1998 hierher, nachdem es in den 1960er Jahren in der Ostsee eingesetzt war. Es scheint verrückt, welche Unmengen an Energien und Ressourcen die Menschheit auf die Möglichkeit verwendet, sich gegenseitig mit Krieg zu überziehen. Und wenn man bedenkt, wie viele Waffen es gibt auf der Welt! Was hätte man mit all dem Material und der für Herstellung, Unterhalt und Betrieb verpulverten Lebenszeit für dieses einzige U-Boot nicht alles an Nützlichem bewerkstelligen können. Es sind beklemmende Gedanken, die sich zwangsläufig einstellen, denn sie bleiben leider kein Blick in die Vergangenheit, sondern werfen ganz aktuelle Fragen auf. Ein lapidares „so war das früher“ greift leider zu kurz.
Das U-Boot kann besichtigt werden – jedoch nicht von uns. Bei unserem Besuch sind die Luken fest verschlossen. Wir verabschieden uns von Peenemünde mit einem kurzen Schlenker durch den Wald, erhaschen einen Blick auf die verlassen wirkende Landebahn und fahren dann in Wolgast über die berühmte Klappbrücke auf das Festland zurück. Inzwischen ist es bereits Nachmittag und Zeit, sich nach etwas Essbarem umzusehen.
(c) Lutz Schafstädt – 2023
Unterwegs – Ausflüge und Reiseerinnerungen